Geschichtswerkstatt Hasloh e.V.

Gestern und Heute: Geschichte des Ortes und der Hasloher BürgerInnen

Der junge Lehrer Kurt Lütjohann bekam 1946 eine Anstellung in Hasloh.
Er schildert seine Eindrücke sehr anschaulich....


 

Neubeginn in Hasloh (1946)

Der Krieg war beendet, und unsere Welt war aus den Angeln gehoben. Wir standen vor oder zwischen Ruinen, jeder trug sein Päckchen, sichtbar oder unsichtbar.
Aber ich wollte wieder in meinen Beruf, in die Schule, wollte unterrichten, denn irgendwie mußte es doch weitergehen.
Ich bewarb mich von Hamburg aus in den Kreis Pinneberg, denn ich war trümmermüde und vom Krieg genug angeschlagen. Ganz reibungslos ging es jedoch nicht. Erst meine Zulassungsnummer der englischen Militärregierung - 312/G/736 - öffnete mir das Tor: „Zuweisung einer Planstelle in Hasloh." Ehrlich gesagt wußte ich gar nicht, wo der Ort lag. „An der AKN", erklärte man mir. Und heimlich fuhr ich hin, um die Schule zu suchen und sie mir anzusehen. Ein Rotziegelbau, schon recht betagt, drei Klassenräume hintereinander. Ein Blick durch die Scheiben verriet mehr: Uralte Schulbänke, rissige Schulwandtafeln, abgeblätterte Wände, keine Lehrmittel, kein Raumschmuck - alles spartanisch einfach! Aber verdursten würde ich hier schon nicht. Draußen an der Ecke stand eine mächtige alte Holzpumpe mit einem schweren eisernen Schwengel, auf dem Schulhof zwei gewaltige Eichen, ein kleiner Toilettenanbau, eine Müllablage und ein kleines Gärtchen, das seltsamerweise von einer Maulbeerenhecke eingefaßt war. Erst viel später erfuhr ich die Zusammenhänge! Der Garten gehörte Fräulein Götz. Die Maulbeerblätter sollten eigentlich einmal von Seidenraupen gefressen werden, die dann dafür Seidenfäden liefern sollten. Ja, so weit reichte damals unser „Autarkie-Bestreben". Nicht vergessen möchte ich den großen Schrotthaufen am Ende des Schulhofes - er war nicht mehr zum Kriegseinsatz gekommen.
Ob mich der erste Eindruck abgeschreckt hat? Nicht im geringsten! Hier waren hübsche kleine Häuser mit Vorgärten, Bauernhöfe mit Strohdächern, bestellte Felder und Kühe auf der Weide. Was besagte es schon, daß ich anfangs nach Hamburg zwischenfahren mußte. Um 5.30 Uhr brach ich damals auf, unterrichtete, aß aus meinem „Henkelmann" meinen Eintopf und fand gegen 16 Uhr vielleicht einen Platz in der von Hamsterfahrern überfüllten AKN. Gegen 18 Uhr war ich im Hause, und wenn ich selbst auch nichts mitbrachte von der Eisenbahnfahrt, so waren es zumindest einige Flöhe. Aber ich wollte und durfte unterrichten. Und vor mir saßen die Jungen und Mädchen und wollten auch wieder Unterricht haben. Wo blieben meine kühnen Pläne von einem modernen Unterricht, vom Einsatz der Lehrmittel? Alles war Utopie!
Als Herr Reich, der damalige Schulleiter, mir die Lehrmittel zeigte, wurde ich ganz still: ein halber Globus, ein halber ausgestopfter Igel mit Strohfüllung, die Stacheldecke dazu fehlte, ein dickes Klettertau, einige Reste von Landkarten, zerfetzt und durchlöchert, eine alte Rechenmaschine, der einige Kugeln und Stangen fehlten. Hatte die Schule wirklich nicht mehr vorzuweisen? Natürlich hatte sie das einmal! Aber in den Wirren der ersten Nachkriegsmonate mußte sie längere Zeit als Notunterkunft dienen. Was im Wege stand, wurde verbrannt oder zerstört. Jeder war sich selbst der Nächste. Es war buchstäblich ein Anfang beim „Stande Null".
Aber das betraf ja nur die Lehrmittel! Wie es im Schulgebäude aussah, will ich nicht verschweigen. Im Fußboden fehlten sehr viele Bretter. Wir füllten die Lücken mit Ziegelsteinen aus. Wenn es regnete, tropfte es an vielen Stellen von der Decke. Einfache Gegenmaßnahme: ausweichen, zusammenrücken und das Tropfwasser mit Konservendosen auffangen. Nur keine Panik! Die Klassentüren hatten weder Schlösser noch Griffe. Die Schließtechnik funktionierte so: linken Finger ins alte Griffloch, mit rechts einen nassen Lappen zwischen Tür und Rahmen hochschlagen und dann schnell die Tür zuziehen! Als Herr Schulrat Krohn uns einmal unangemeldet besuchte, hörte ich seinen verzweifelten Ruf vor der Tür: „Wie kommt man denn hier überhaupt rein?"
Halt - die Öfen habe ich vergessen! Massige, drohende Eisenungeheuer mit gewaltigen Kronen. Sie hatten nur einen Fehler: ihr Innenleben war defekt, die Schornsteinverbindungsrohre waren durchgerostet. Wir froren entsetzlich. Aus Trümmersteinen wurden Behelfsöfen aufgemauert. Morgens gegen fünf Uhr begann Frau Clasen den verzweifelten Kampf, mit Torfsoden den Koloß zu erwärmen: Anfangstemperatur im Unterricht 10 bis 12 Grad, gegen Mittag 14 bis 15 Grad. Wir saßen mit Mänteln, Pudelmützen und Handschuhen manchmal mit zwei Abteilungen, also mit 60 bis 70 Kindern in e i n e m Raum.
Der Unterricht verlief umschichtig: Sprach eine Lehrkraft zu einer Abteilung, so hatte die andere Abteilung „Sendepause" - also Stillbeschäftigung. Aber was hieß schon Stillbeschäftigung. Wenn wir doch wenigstens Bücher gehabt hätten! Die Militärregierung verbot die Benutzung der noch vorhandenen Bücher - „Infektionsgefahr!" Neudrucke gab es noch nicht, lediglich ein Lesebuch, eine Behelfsausgabe auf Anordnung des Britischen Oberbefehlshabers (ein Nachdruck aus dem Jahre 1928!) stand uns zur Verfügung. Dazu gab es lose gelbe Rechenzettel, die wir ständig austauschen mußten. Aber wie sollten Hausaufgaben erledigt werden, wenn keine Hefte vorhanden waren? Zeitungsränder, alte Tüten, Briefumschläge und Formulare mußten herhalten. Welch ein „Glück", als damals die alte Schmiede von Schnoor abbrannte, weil sie mit Schieferplatten gedeckt war! Großalarm für die Schuljugend: „Rettet die Platten - egal welches Format!" Wir hatten damit Schreibmaterial. Griffel waren damals Luxus, alte Nägel taten es auch.
Und die Schüler? Nahmen sie das alles so ruhig hin? Ja - und noch viel mehr! Bei jedem Wind und Wetter machten sie den langen Weg zu Fuß von Syltkuhlen oder von Schwarzenfelde und vom Blauen Vogel. Völlig durchnäßt, die aufgeweichten Schuhe aus Papierbindfäden unterm Arm, in der sogenannten Schultasche ein dickes Stück Steckrübe, so kamen sie morgens pünktlich zum Unterricht. Herr Lunding organisierte eine Milch-Spenden-Aktion bei den Bauern, und Frau Feise versuchte verzweifelt, die kalte Milch zur großen Pause schön heiß zu servieren. Was für eine Wohltat - ein Becher Vollmilch zum Frühstück! Ich selbst war manchmal ratlos, was unsere Verpflegungslage anbetraf. Es reichte ja nicht hinten und vorn - und Kohldampf tut weh! Was konnte man schon kaufen? Die Tagesration auf Marken - 1/8 l Magermilch - kostete nur Pfennige. Aber mein stolzes Lehrergehalt von 238 Reichsmark im November 1946 langte nicht mal für ein Pfund Kaffee auf dem Schwarzmarkt.
Dann stand Weihnachten vor der Tür. Das wurde eine heilsame Lektion für mich! Die Kinder wollten Gedichte lernen, Weihnachtslieder singen, Weihnachtsgeschichten hören; sie wollten sogar ein Weihnachtsmärchen aufführen. Das riß auch mich mit! Wir sangen und probten und froren - aber am 22. Dezember 1946 war Schulweihnachtsfeier bei „Schadendorf". Und wieder hatte Herr Lunding durch Spenden der Bauern für jedes Kind eine Kuchentüte bereit. Wir hatten einen warmen Saal, einen Baum mit Kerzen, ein Theaterstück („Der Teufel mit den drei goldenen Haaren") - und alle ein warmes Herz!
Ich wußte, daß die großen Jungen in der nächsten Nacht unterwegs waren, um in Eidelstedt die Kohlenzüge anzuspringen, um Kohlen zu klauen, um sie heimlich im Schutz der Dunkelheit nach Hause zu fahren, damit die Familie nicht fror. Ich sah es, wenn sie im Unterricht vor Übermüdung einschliefen und störte sie nicht. Wir wußten, welche Verantwortung sie zum Teil auf ihren jungen Schultern trugen. In meiner Statistik von 1948 liest es sich so: Jedes vierte Schulkind in Hasloh lebte ohne den Vater im Haus.
Langeweile hatte damals niemand. So nebenbei sammelten wir säckeweise und blockwagen-weise Blätter, Blüten, Stauden und Farnwurzeln für die pharmazeutische Industrie, sammelten während der Schulzeit Kartoffelkäfer, sammelten nachmittags für uns Getreideähren, Bucheckern und stoppelten Kartoffeln - nur um satt zu werden!

 

Was für ein Lichtblick, als die Schule den Auftrag bekam, eine große Küche zu erstellen. Platz war auf dem Schulhof noch reichlich vorhanden. Aber die Kochgelegenheit? Not macht erfinderisch! Irgendwo im Hasloher Wald hatten damals Soldaten eine Gulaschkanone „vergessen". Die wurde herangeholt, aufgemöbelt und von Herrn Bünner liebevoll betreut. Jetzt gab es eine Schulbespeisung. Vergessen wir nicht, daß es zum Teil auch Spenden des „Dänischen Roten Kreuzes" waren. Ich habe noch einen alten Speiseplan aufbewahrt und möchte zwei „Menü-Folgen" vorlesen:
Reis mit Früchten (Dienstag)
Reis                      45 g 158 Kal.
Zucker                  45 g 180 Kal.
Orangensaft          15 g
Obst                     25 g 55 Kal.
                   Summe    393 Kal.
Milchnudeln (Mittwoch)
Krausbandnudeln   55 g 192 Kal.
Trockenmilch          65g 130 Kal.
Zucker                   15g 60   Kal.
                   Summe    382 Kal.
Es ging langsam aufwärts! Am Tage der Währungsreform zahlten wir - ja, wir, die Lehrer - an 1659 Einwohner insgesamt 66360,-DM aus und kassierten auf der Gegenseite 99540,- RM - sie wurden in Milchkannen abgefahren. Aber unser Schulgebäude merkte davon nichts. Wo sollte man da auch. anfangen und wo aufhören?
1839 war das alte Schulhaus entstanden (einschließlich Wohnung). Die Schule war einklassig. 1864 wurde ein Lehrerhaus gebaut, die Schule wurde zweiklassig. Nach einem Brand 1871 erfolgte ein Wiederaufbau. 1892 wurde ein weiterer Raum angebaut, die Schule wurde drei-klassig. Aber der eigentliche Altbau war inzwischen fast 80 Jahre alt. Er hatte treu gedient und wirklich ausgedient. Hätten wir damals nicht einen Bürgermeister Peter Lunding gehabt, wer weiß, wie es weitergegangen wäre. Er entwickelte Pläne, befragte Architekten, fuhr unermüdlich nach Pinneberg zur Kreisverwaltung, nach Kiel zur Landesregierung und verhandelte zäh und ausdauernd.
Er hatte nicht immer einen leichten Stand im Gemeinderat; aber vom Wege abbringen ließ er sich nie! Auch das Bauland sollte in günstiger Lage vorhanden sein. Wenn ich heute stellvertretend einen Namen nennen darf von einem damaligen Mitglied des Gemeinderates, der mit großem Eifer und Entgegenkommen für dieses kühne Projekt eintrat, so war es Wilhelm Holdorf. Die Finanzierung konnte nur ermöglicht werden von Seiten des Bauernstandes und einiger Großbetriebe in Hasloh. Auch das sollten wir heute nicht vergessen!
Dann war es endlich soweit. Am 3. Januar 1950 erfolgten die Abmessungen. Die Holzpflöcke ließen uns ahnen, welches Ausmaß die neue Schule haben würde. Am 16. Januar waren die Baugeräte da. Am 25. März, also schon nach 68 Tagen, erfolgte die Grundsteinlegung durch den Bürgermeister Lunding. Am 12. Mai 1950 war die Richtfeier. Der weitere Ausbau verzögerte sich etwas, weil die Gelder nicht flossen. Aber am 8. Januar 1952 wurde im Beisein von Minister Dr. Pagel, Regierungsschulrat Heine und Schulrat Krohn diese Schule feierlich eingeweiht.


Kurt Lütjohann beim Kinderfest in den 1950er Jahren